Dr. Caroline Marcon greift in den mit Wasser gefüllten Eimer und holt eine der bräunlichen Rollen heraus. „Das ist Keimungspapier.“ Sie entrollt das tropfende Blatt, Maiskeimlinge kommen zum Vorschein. Aus getrockneten Maiskörnern sind in der feuchten Rolle in den vergangenen zehn Tagen junge Maispflanzen herangewachsen. Oberhalb des Samenkorns sind lange, schmale Blättchen zu erkennen - unterhalb jeweils eine noch längere Wurzel. Die Biologin deutet mit dem Zeigefinger auf eine rosafarbene Wurzel, die sich nicht nur in der Farbe klar von den weißen Wurzeln der anderen unterscheidet: Sie hat keine Wurzelhaare und erscheint im Vergleich zu den anderen Exemplaren nackt.
„Es handelt sich um die Magenta Root Mutante, die wir entdeckt haben“, sagt Marcon und deutet auf die Wurzel. Der Name ist kein Zufall, sondern auf die Farbe der Wurzel zurückzuführen. Da „pinky“ in der Namensgebung bereits vergeben war, lief es auf die Farbe des großen Bonner Konzerns hinaus. Die Wissenschaftlerin rollt das feuchte Papier mit den Keimlingen wieder zusammen und stellt es zurück in den Wassereimer. „Wir wollen die Funktionen aller Gene aufklären, um zum Beispiel die Züchtungsfrage zu beantworten, wie die Maiswurzeln angesichts der zunehmenden Trockenheit besser an die Wasservorräte in tieferen Bodenschichten herankommen.“
Springende Gene
In den Laboren der Arbeitsgruppe Crop Functional Genomics von Prof. Dr. Frank Hochholdinger im früheren Landesbehördenhaus an der B9 startete Marcon vor vier Jahren das Projekt zu der Großfahndung nach natürlichen Erbgutveränderungen (Mutationen) in Maispflanzen. Sie werden durch sogenannte „springende Gene“ ausgelöst – Wissenschaftler sprechen von „Transposons“. Auf dem langen Erbgutstrang der DNA „schlummern“ zahlreiche Gene, die erst erwachen, wenn sie mit dem Enzym Transposase in Kontakt kommen. Dann schneiden sich die Gene aus ihrem angestammten Platz heraus und fügen sich irgendwo anders in die DNA ein. Wo das passiert, lässt sich nicht genau vorhersagen.
Marcon hat mit ihrem Team aus zwei Studierenden, zwei Doktoranden und einer Technischen Assistentin jedoch kürzlich in einer Studie untersucht, an welchen Stellen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass springende Gene hineinhüpfen. In den Chromosomen liegt das Erbgut wie in einem Wollknäuel vor. Manche Bereiche sind dichter gepackt, andere lockerer. „Wo die Schlingen des Knäuels nicht so eng beisammen liegen, fügen sich die Transposons häufiger ein“, berichtet die Wissenschaftlerin.
Solang die springenden Gene schlummern, passiert nichts. Wird aber in eine Maispflanze durch Bestäubung eine andere eingekreuzt, die die Transposase produziert, kommt es in den folgenden Generationen zu Exemplaren, in denen die springenden Gene aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Marcon deutet auf ein Poster: Je nachdem, wo sie sich einfügen, machen sie Unfug oder nicht. Sind DNA-Abschnitte betroffen, die keine wichtigen Funktionen codieren, kommt es zu keinen Veränderungen im Erscheinungsbild. Springen sie aber in ein anderes Gen hinein, dann können sie dessen Funktion beeinträchtigen – dann bleibt zum Beispiel die Wurzel nackt und färbt sich rosa. Eine andere Mutation verursacht runzlige Blätter wie die des Wirsings.
Aus den Keimlingen gewinnen die Wissenschaftler die DNA und fahnden zusammen mit Spezialisten für die Entschlüsselung im Hochdurchsatzverfahren danach, wo sich springende Gene bei der jeweiligen Pflanze eingefügt haben. „Wir erkennen die Transposons daran, dass sie an den Enden charakteristische Sequenzen haben“, erklärt Marcon. Die Wissenschaftler arbeiten dabei mit der Arbeitsgruppe Crop Bioinformatics von Prof. Dr. Heiko Schoof von der Universität Bonn zusammen.
Was das Team jeden Tag aufs Neue leistet, ist eine gigantische Fleißarbeit. Durch die Tranposase regen die Wissenschaftler auf natürliche Weise Mutationen an. Die Maiskörner, die daraus hervorgehen, werden in kleine Tüten verpackt. Mehr als 6000 dieser unterschiedlichen Mutanten lagern im Gebäude. Dr. Marcon befindet sich in diesem Meer aus Samentüten und zieht gezielt eine aus einer der grauen Kisten heraus. Aus jedem der Tütchen entnahmen die Forscher im Lauf der vergangenen Jahre jeweils 20 Maiskörner und zogen sie in Keimungspapier an. Anschließend nahmen sie von jedem Pflänzchen ein Porträtfoto auf, um das Erscheinungsbild festzuhalten.
Weltweit nachgefragte Samenbank
Zusammen mit den Ergebnissen der DNA-Sequenzierung wissen die Wissenschaftler dann, welche Mutationen in dem Saatgut eines bestimmten Tütchens vorliegen und was die springenden Gene mit den Pflanzen machen. „Dieses Saatgut verschicken wir weltweit an andere Forschungsgruppen, damit wir gemeinsam die Genfunktionen in Mais aufklären können“, sagt die Biologin. So gehen die kleinen Tüten mit den Maiskörnern etwa in die USA, nach China oder Frankreich.
Grundlage ist die Datenbank „Bonn-Mu“ der Wissenschaftler der Universität Bonn, der einzigen europäischen Mais-Mutantenkollektion, in der die Mutationen der springenden Gene beschrieben und mit Fotos der Maiskeimlinge dokumentiert sind. Forscher weltweit können diese Datenbank für funktionelle Genanalysen nutzen. Die Wissenschaftler haben bislang in mehr als der Hälfte der rund 40.000 Maisgene Mutationen gefunden und in „BonnMu“ beschrieben. Die Wissenschaftlerin hält einen Blumentopf mit einer Maispflanze in der Hand und deutet auf das üppige Grün: „Unsere Vision ist, dazu beizutragen, die Funktionen sämtlicher Maisgene aufzuklären, um eine Grundlage für künftige Züchtungen zu legen.“ Bislang sind nur einige hundert Maisgene funktionell beschrieben.
Author: Johannes Seiler
...weiterlesen in der forsch Herbst/Winter 2020, Seite 36-37: www.uni-bonn.de | 17.12.2020