Der Weg der Kalziumionen in die Mitochondrien
„Es ist verblüffend, dass ein so einfaches Ion derart wichtig ist für die Informationsübertragung. Wir gehen davon aus, dass die Kalziumionen dieses Potenzial durch den Ort und die Zeit ihres Einsatzes entfalten“, erklärt Markus Schwarzländer. Bereits seit 1965 ist bekannt, dass Pflanzenmitochondrien Kalzium aufnehmen können und sich so – mutmaßlich – an Kalziumsignalwegen beteiligen. Wie genau die Aufnahme vermittelt wird, war jedoch jahrzehntelang umstritten. Für die meisten Ionen ist die innere Mitochondrienmembran undurchlässig, bestimmte Membranproteine können aber dafür sorgen, dass die Kalziumionen diese teildurchlässige Membran durchdringen können und so die Signalübertragung in diesem Zellorganell ermöglichen.
Für Tiere wurde die Frage nach der Identität des mitochondriellen Kalziumkanals 2011 beantwortet, als Wissenschaftler der Universitäten Harvard und Padua den Kalziumkanal MCU (mitochondrial calcium uniporter) entdeckten. Dieser Durchbruch ebnete den Weg für die Erkenntnis, dass Pflanzen ebenso MCU-Gene in ihrem Erbgut enthalten. Unklar blieb allerdings, ob diese Gene in der lebenden Zelle ebenfalls Kalziumionenkanäle bilden – nicht zuletzt, weil die Kalziumionenaufnahme bei Tieren deutlich andere Muster aufweist als die der Pflanzen.
Gensteuerung offenbart die Bedeutung der Kalziumionenaufnahme für die Zellkraftwerke
Um zu klären, welche Rolle die MCU in der Pflanzenzelle spielen, mussten die münsterschen Forscher drei der sechs MCU-Gene der Modellpflanze Arabidopsis thaliana gleichzeitig ausschalten. Dadurch begrenzten sie die Kapazität der Zellmaschinerie – und konnten so erstmals in einer lebenden Pflanze beobachten, zu welchen Konsequenzen dieser Engpass führt. Dazu nutzten sie ein Fluoreszenzprotein, das Veränderungen der Kalziumionenkonzentration in den Mitochondrien in Form eines Lichtsignals anzeigt. Zu sehen war, dass durch die Gendeaktivierungen viel weniger Kalziumionen in die Mitochondrien gelangten. Damit weisen die Wissenschaftler nicht nur nach, dass lebende Pflanzenzellen – ähnlich wie tierische Zellen – ihre Kalziumionen über MCU-Kanäle in die Mitochondrien bringen. „Wir konnten auch zeigen, dass es sich dabei um den mit Abstand wichtigsten Weg für den schnellen Transport von Kalziumionen in die Mitochondrien handelt. Damit haben wir nun die Möglichkeit, die Signalübertragung von Kalziumionen in die Zellkraftwerke zu kontrollieren und so möglicherweise auch deren Informationsgehalt zu beeinflussen“, betont Markus Schwarzländer.
Nach dieser wegweisenden Beobachtung versuchte das Team mithilfe der Pflanzen, die in ihrer mitochondriellen Kalziumaufnahme gestört waren, herauszufinden, welche Rolle mitochondrielles Kalzium für die Pflanze und ihre Fitness hat. In Tieren regulieren Kalziumionen in den Mitochondrien die Energieproduktion, in Pflanzen gab es dafür bislang keine Hinweise.
Die Forscher konnten jetzt durch eine Analyse der Expression des gesamten Pflanzengenoms nachweisen, dass sich die verringerte Transportkapazität für Kalziumionen auf die Regulation des pflanzlichen Hormons Jasmonsäure auswirkt. Jasmonsäure ist ein Abwehrhormon in Pflanzen, das vor Fressfeinden schützt, indem es bei Verletzungen aktiviert wird. Auch die Seneszenz, also das regulierte Absterben von Geweben, und die Antwort auf mechanische Reize wie Berührungen werden unter anderem von der Jasmonsäure kontrolliert. Die von den Forschern manipulierten Pflanzen zeigten eine leicht verzögerte Seneszenz: In dunkler Umgebung verloren die Blätter weniger schnell ihr Blattgrün. Zudem wiesen sie eine deutlich abgeschwächte Antwort auf Berührung auf. „Besonders überraschend für uns ist, dass es offenbar eine Verbindung zwischen der Kalziumionenaufnahme in die Mitochondrien und der Jasmonsäure-Regulation gibt. Die Ergebnisse zeigen, dass molekulare Prozesse wie die Kalziumionenaufnahme in die Mitochondrien, die in Tieren und Pflanzen über die Evolution erhalten wurden, in den Dienst unterschiedlicher Funktionen gestellt werden können“, erläutert Markus Schwarzländer. Auch erscheint die gezielte Umprogrammierung von mitochondrieller Kalziumaufnahme als interessante Aufgabe, da eine kontrollierte Berührungsantwort beispielsweise in der Landwirtschaft, wo Pflanzen oft dicht beisammen
gepflanzt werden, von Nutzen sein könnte.
Untersuchung mit synthetischen Biosensoren
Zu den zentralen Methoden der nun veröffentlichten Arbeit gehörte die „In vivo Biosensorik“. Bei diesem Verfahren werden synthetische Proteine über molekularbiologische und biotechnologische Methoden so gestaltet, dass sie als künstliche Messsensoren im lebenden Organismus dienen. Hiermit werden Pflanzen genetisch transformiert – sie stellen selbst einen Sensor her, der in der lebenden Pflanzenzelle unmittelbar Auskunft über deren Zustand gibt. Zudem können diese biologischen Sensoren zur Messung in ganz bestimmten Bereichen der Zelle eingesetzt werden, indem sie genetisch in ein bestimmtes Zellkompartiment verbracht werden. Dies ist mit herkömmlichen Methoden schwierig, da in diesen typischerweise die Zelle aufgebrochen wird und damit alle Organisation innerhalb der Zelle verloren geht.
Internationale Kooperation bringt den Erfolg
Die Arbeit wurde ermöglicht durch eine starke Bündelung internationaler Expertise. Den Kern der Studie bilden die Arbeitsgruppen von Markus Schwarzländer und Alex Costa zu gleichen Teilen. Die Erstautorin Dr. Cristina Ruberti hatte zunächst für zwei Jahre in Münster geforscht, ehe sie an die Università degli Studi in Mailand wechselte. Über mehrere weitere nationale und internationale Kooperationen wurde es möglich, die Reaktionen der Pflanze auf den defekten Kalziumionentransport umfassend zu untersuchen. Zu den Partnern gehören Arbeitsgruppen aus Halle, Heidelberg, Bonn, Lund (Schweden), Antwerpen (Belgien) und Viçosa (Brasilien).
Publikation: Cristina Ruberti, Alex Costa, Markus Schwarzländer et. al.: MCU proteins dominate in vivo mitochondrial Ca2+ uptake in Arabidopsis roots. The Plant Cell (2022); DOI: 10.1093/plcell/koac242
Zur Pressemitteilung der Uni Münster:
www.uni-muenster.de | 08.08.2022